Darum geht's:
Nadeche Hackenbusch, mit "Engel im Elend" der regelmäßige Quotengarant eines kleinen Privatsenders, wird nach Afrika in ein riesiges Flüchtlingslager geschickt, um dort zu drehen. Die junge Frau ist ziemlich naiv, hat aber ein großes Herz. Als sie nach Dreh-Ende eigenmächtig beschließt, dass ihre Aufgabe noch nicht beendet ist und sie noch nicht bereit ist, die gestrandeten Flüchtlinge wieder sich selbst zu überlassen, tritt sie damit ungewollt eine Lawine los, die man nicht wieder stoppen kann.
So fand ich's:
"Goes not, gives not" ist das Motto von Nadeche Hackenbusch. Mit einer naiven Geradlinigkeit und einem entsetzlichen Englisch herzt sie sich durch das Flüchtlingslager und bringt die Zuschauer ihrer Sendung auf ihre Seite. Wer ihre Figur für überzogen oder unglaubhaft hält, möge sich beim Dschungelcamp etc. umsehen und wird schnell auf real existierende Zwillingsschwestern von Nadeche stoßen. Fotogen, quotenwirksam, aber harmlos. Doch als sie sich mit den 150.000 Flüchtlingen zu Fuß in Richtung Deutschland aufmacht, sehen auch viele die Gefahren einer solchen Aktion - auch wenn die Chance, dass so ein Coup überhaupt gelingen kann, verschwindend gering scheint.
Man begleitet nicht nur Nadeche, sondern auch ihren einheimischen Helfer und Geliebten Lionel, der diesen Namen von den Fernsehleuten bekommen hat und von dem man nie erfährt, wie er richtig heißt. Selbst in solchen Kleinigkeiten ist die Erzählung nahe an der TV-Realität so mancher Formate, die mehr Wert auf Schein und Wirkung als auf Fakten legen.
Ebenso schaut man verschiedenen Menschen aus der Medienwelt und der Politik über die Schulter, die teilweise ahnen, was da für eine Zeitbombe tickt, die ihren eigenen Vorteil daraus ziehen, die heldenhaft ihre Ideale verteidigen, die die Verantwortung abwälzen oder sich ihr stellen - und für die es sich auszahlt, oder auch nicht. Was genau der richtige, der lohnende oder sichere Weg ist, das wissen weder die Menschen, die sich zu Fuß in Richtung Deutschland bewegen noch alle, die irgendwie damit zu tun haben. Es gibt keinen Präzendenzfall, an dem man sich orientieren könnte und entsprechend hilflos agieren auch die deutschen Politiker. Der Flüchtlingstreck bringt ungeahnte logistische Probleme vor Ort und politische Verwicklungen in Deutschland und unterwegs mit sich, die man ebenfalls ausführlich beobachten kann.
Manchmal vergisst man, dass das nur ein Gedankenexperiment von Timur Vermes ist. Denn genau so würde es ablaufen. Ich habe mich durch die Handlung gehört und war mehr als einmal versucht, den Fernseher anzuschalten und mir die Bilder dazu anzusehen, weil man sich wirklich vorstellen kann, dass es sich tatsächlich so oder so ähnlich abspielen würde.
Die Politik wird durch "Die Hungrigen und die Satten" genauso entlarvt wie die Medien (und mit ihnen auch die Sensationslust der Zuschauer, die zuverlässig bedient wird) und obwohl so einiges überspitzt wird, bleibt jeder in seinen Möglichkeiten und seinen Ansichten realistisch, glaubhaft und echt. Timur Vermes wagt sich an ein ungewöhnliches Szenario, das absolut im Rahmen des real Möglichen liegt und zieht es ohne Rücksicht auf Verluste durch, spinnt dieses Gedankenexperiment konsequent zu Ende und ließ mich damit mehr als einmal den Atem anhalten - und am Ende mit einem Gruseln darüber nachdenken, wie zwangsläufig das alles war. Wie schnell wird aus so einer Satire Realität? Das wird mir noch länger im Kopf bleiben. Den Marsch durch Mittelamerika in Richtung USA haben wir ja schon bekommen.
Eingefügt ist ein Wortwitz, der manchmal sehr überraschend aber immer treffend zündet und der einem doch auch immer wieder das Lachen im Hals steckenbleiben lässt. Manches ist wirklich lustig, wie Nadeches Versuche, Englisch zu sprechen. Vieles scheint übertrieben, wie beispielsweise einige der Ideen, um den Flüchtlingsmarsch aufzuhalten, doch nach kurzem Nachdenken war ich mir nicht mehr so sicher, dass man nichts davon eines Tages in den Nachrichten wiederfindet. Die Menschen werden entlarvt in ihrer Gier, Verzweiflung, Gedankenlosigkeit und kühler, zynischer Berechnung.
Christoph Maria Herbst fand ich die genau richtige Wahl als Sprecher für dieses Hörbuch, denn er bringt die ernsten Aspekte genauso glaubhaft rüber wie die leichten und humorvollen und ich liebe es sowieso, ihm länger zuzuhören. Diese Tragik-Komödie belehrt nicht, sondern sie führt einem nur äußerst konsequent ein glaubhaftes Szenario vor und erschreckt, amüsiert, gruselt und unterhält einen damit gleichermaßen. Für mich ein absoluter Volltreffer!
Mehr dazu:
Weitere Meinungen zum Buch:
Monerls bunte Welt
Irve liest
Lieblingsleseplatz
Daggis Welt
Auf dem Literaturblog von Günter Keil findet man ein interessantes Interview mit Timur Vermes.
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Titel: Die Hungrigen und die Satten
Autor/in: Timur Vermes
Sprecher: Christoph Maria Herbst
ISBN / ASIN: B07D8WLF6R
Sprache: Deutsch
Genre: Roman
Verlag: Lübbe Audio / Audible
Erscheinungsjahr: 2018
Medium: ungekürztes Hörbuch
Hördauer: 15 Stunden 13 Minuten
Klappentext- und Bildquelle sowie Buchdetails: Verlagsseite (gekürzt) / Audible (ungekürzt)
Das lese ich gerne, denn das Print bekommt der Freund zu Weihnachten (=
Bin gespannt ob auch diese Geschichte wieder verfilmt wird – bei dem vorherigen Buch kenne ich nur die Verfilmung, aber mein Freund hat “Er ist wieder da” inhaliert. Der Autor schafft es wundervoll leicht die Gesellschaft und ihr Tun zu kritisieren.
Liebst,
Janna
Liebe Janna,
bisher hab ich nur Positives über “Die Hungrigen und die Satten” gehört und gelesen, ich hoffe, Dein Freund findet es auch so toll wie ich. Und ich bin gespannt, was Du dazu sagst, denn ich gehe mal ganz fest davon aus, dass Du es Dir natürlich auch selbst schnappen und lesen wirst ;-)
Hab ein schönes erstes Adventswochenende!
LG Gabi
Mal sehen, “Er ist wieder da” ist bis heute nur vom Freund gelesen :D Weißt doch, SuB und sooo *lach