Darum geht's:
In der USA der nahen Zukunft dürfen Frauen und Mädchen nur noch 100 Worte pro Tag sprechen. Ein Wortzähler am Handgelenk protokolliert das genau und bestraft Überschreitungen mit immer heftiger werdenden Stromstößen. Berufstätigkeit ist für Frauen nicht mehr möglich und den Mädchen wird in der Schule nur das Nötigste beigebracht, um später als Hausfrau klarzukommen. Die Linguistin Jean McClellan ist von diesem System entsetzt, denn sie muss nicht nur hilflos zusehen, wie ihre eigene Karriere als Wissenschaftlerin plötzlich beendet wird, sondern sie beobachtet auch, was das mit ihren Kindern macht - allen voran der kleinen Tochter Sonia. Als sie die Gelegenheit bekommt, an diesem System zu rütteln, ergreift sie die Chance.
So fand ich's:
Als wir den ersten Blick auf die USA werfen, existiert dort schon ein ausgeklügeltes System, ein lückenloses Netz der Überwachung mit grausamen Strafen und Konsequenzen. Die Frauen und Töchter werden dazu gebracht, weder zu sprechen noch sich mit Zeichen oder schriftlich verständlich zu machen. Das raubt den Frauen und Mädchen nicht nur die Sprache, sondern auch ihr komplettes Sozialleben. Die Söhne werden so gehirngewaschen, dass sie das System verinnerlicht haben und ohne jede Kritik oder Zweifel leben.
Beim Lesen überkam mich regelmäßig enorme Wut auf die Zwänge, denen Frauen unterworfen sind, die Unterdrückung und der fremdbestimmte Lebensweg, den sie gehen müssen. Alternativlos. Ich habe mich gefragt, wie es so weit kommen konnte und das offensichtlich in ganz wenige Jahren, doch leider bekam ich aus dem Buch hierzu sehr wenig Informationen.
Natürlich kann man sich vorstellen, wie das so läuft mit der Entstehung totalitärer Systeme. Man hält sie für harmlos, sieht nur die Vorteile, die in den Vordergrund geschoben werden, nutzt die Lage für sich selbst aus, ist politisch uninteressiert und bemerkt erst, wie weit sich die Anhänger der "Reinheits"-Bewegung schon etabliert haben und ihre Kontrolle überall ausüben, wenn es schon zu spät ist. Doch mitverfolgen kann man diesen Prozess nicht, denn sie sitzt schon fest im Sattel, als wir einsteigen.
Man spürt Jeans Hilflosigkeit. Trotz überragender Intelligenz hat sie es nicht kommen sehen, hat regelmäßige Warnungen und Mahnungen ihrer Freundin Jackie ignoriert, und hat auch jetzt keine Idee, wie man dieses System bekämpfen könnte. Ihre Tochter ist so gut wie stumm und verkümmert, ohne dass Jean etwas dagegen tun könnte - mit lediglich 100 Worten, die ihr innerhalb von 24 Stunden zur Verfügung stehen. Besonders ihr ältester Sohn ist fanatisch dem System ergeben und plappert Parolen nach, ohne die Konsequenzen zu begreifen und Jean ist nahe dran, ihn in seinem naiven Gehorsam zu hassen.
Diese Ausgangssituation ist schrecklich, aber ungeheuer interessant. Doch Jean ist keine Durchschnitts-Hausfrau, sondern Wissenschaftlerin, die dringend gebraucht wird, um dem Bruder und wichtigstem Berater des Präsidenten zu helfen, der nach einem Unfall unter einer Störung des Sprachzentrums leidet, und das zu behandeln ist zufällig Jeans Spezialgebiet. Dadurch bewegt sich das Buch in die Richtung, in der Jean die Möglichkeit bekommt, das eigentlich fest etablierte System der "Reinen" ins Wanken zu bringen. Das wandelt die düstere Dystopie aus dem Anfang des Buches in eine Thriller-Geschichte mit wissenschaftlichem Touch, die ich so nicht erwartet hätte. Denn diese Konstellation mit Jean in einer sehr besonderen Situation umgeht die Frage, wie man sich als Otto Normalbürger in so einem System verhält, das man zugelassen und dessen schreckliche Auswirkungen man zu spät erkannt hat. Hängt man auf Gedeih und Verderb fest, bis sich einige wenige Helden in exponierter Stellung finden, die "die Welt retten"? Ist das die einzige Chance, die die Autorin sieht? Außerdem ist Jean keine Anführerin und braucht schon eine gehörige Menge Zufall, Glück und Hilfe von verschiedenen Seiten, um überhaupt in die Lage zu kommen, tätig zu werden. Da war ein großer Anteil Action-Thriller verarbeitet und für meinen Geschmack zu wenig politisches Engagement und konkrete Möglichkeiten, mit Hilfe der Mehrheit dieses sektenartige Regime zu stürzen. Jean ist ein Spielball, der eine Möglichkeit in die Hände gelegt wird, der sie folgt, ohne tatsächlich selbst das Ruder in die Hand zu nehmen. Sie hat keinen Plan, sondern aus allen Ecken kommt unerwartete Hilfe, die etwas Zufälliges an sich hat.
Auf den Klischee-Aspekt der rührseligen Lovestory mit ihrer heimlichen Liebe Lorenzo, der als strahlender Held jenseits jeder Kritik ist, hätte ich auch gerne verzichten können.
Wenn man das Schreckensszenario einer möglichen Afd-Mehrheit der Zukunft ins Gedächtnis ruft, das Nazi-Regime der Vergangenheit, die politischen Gegebenheiten in der DDR usw. und sich überlegt, wie man solche Regimes stürzen kann, wenn man schon verpasst hat, sie zu verhindern, dann wird man in diesem Buch keine Antwort darauf finden. Das fand ich sehr schade, denn die Lösung, die das Buch beschreibt ist nun nicht unbedingt eine, auf die ich im Falle eines Falles als realistische Möglichkeit setzen würde. Stattdessen wird die verzweifelte Lage in einem totalitären Regime auf eine Actionthriller-Weise gelöst, die für meinen Geschmack nicht wirklich zum Anfang des Buches passte.
Wahrscheinlich ist es immer noch die beste Lehre, die man aus so einem Szenario ziehen kann, dass man es gar nicht erst so weit kommen lässt - und genau dieser Kampf wird in Deutschland und auch in so manch anderem Land ausgefochten. Man muss wachsam bleiben, informieren, die Manipulationen entlarven, man sollte sich sehr wohl überlegen, ob man die Konsequenzen seiner "Protestwahl" auch wirklich tragen will (Stichwort AfD) und man sollte sich nicht darauf verlassen, dass die anderen das schon richten werden und es auf die eigene Stimme gar nicht ankommt (Stichwort Brexit), weil die Entscheidung für die lächerliche Variante einem doch zu unwahrscheinlich erscheint (Stichwort Trump). Diese Gedanken werden durch das Buch angestoßen, denn das behandelte Thema ist wichtig und hochaktuell, aber leider im Buch selbst zu wenig thematisiert.
Dass das Buch gerade gehörig durch die Buchbloggerwelt flattert, sieht man schon an der langen Liste der weiteren Meinungen auf Blogs, denen ich regelmäßig folge. Die meisten davon teilen meine Meinung, dass das Thema aktuell und wichtig ist, dass man aber auch mehr hätte daraus machen können, denn die Umsetzung war teilweise zuviel von Zufällen bestimmt, zu oberflächlich und schnell abgehandelt und die angebotene Lösung macht es sich ein bisschen zu leicht. Trotzdem bietet es einige Anregungen zum Diskutieren, um sich selbst Gedanken zu machen und diese Überlegungen zum Buch auch ins tägliche Leben zu übertragen. Denn wenn ein unterdrückendes Regime sich erst einmal etabliert hat und fest im Sattel sitzt, wird es nur unter großen Verlusten möglich sein, es wieder zu zerschlagen. Umso wichtiger ist es, dem vorzubeugen, sich rechtzeitig schon am Anfang zu wehren und problematische Tendenzen schon im Keim zu ersticken.
Die Hör-Version war bei Andrea Sawatzki bestens aufgehoben, denn sie las lebendig und routiniert wie immer und ich habe es genossen, ihr zuzuhören.
Mehr dazu:
Weitere Meinungen zum Buch:
Der Büchernarr
Der Schurkenblog
Tintenhain
Ink of Books
Sabrinas Welt
Buchsichten
Weltenwanderer
Nana - der Bücherblog
Sternenbrise
KeJas Blogbuch
Leselust
Hochhorst
Der Leseratz
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Titel: Vox
Autor/in: Christina Dalcher
ISBN / ASIN: B07F8R26Z4
Sprache: Deutsch
Genre: Hörbuch Roman
Verlag: Argon Verlag, Audible-Download
Erscheinungsjahr: 2018
Medium: ungekürztes Hörbuch
Hördauer: 9 Stunden 47 Minuten
Sprecherin: Andrea Sawatzki
Klappentext- und Bildquelle sowie Buchdetails: Audible
Hey :)
Na, immerhin hast du eine gute Lesung gehabt. Nachdem ich selbst schon einiges von Andrea Sawatzki gehört habe, kann ich bestätigen, dass man bei ihr gut aufgehoben ist :). Ich habe ja oft den Fall, dass eine gute Lesung mich ein Hörbuch besser bewerten lässt, aber in diesem Fall bin ich mir nicht sicher, ob sie es hätte auffangen können. Dafür war das Ende einfach zu “hingeschmiert” (Sorry, ich weiß, das ist ein bisschen hart formuliert, aber so hätte es ganz bestimmt mein alter Deutsch-Prof genannt).
Liebe Grüße
Ascari
Liebe Ascari,
ja, ich finde, dass “hingeschmiert” den Eindruck ganz gut trifft, den auch ich von dem Buch hatte. Besonders die zweite Hälfte. Die erste hat mir mit der Schilderung der Situation, der Aussichtslosigkeit und Wut, die Jean empfindet (oder eher ich an Jeans Stelle empfunden habe), noch ganz gut gefallen. Tja, das war wieder mal ein Fall von “nur weil es überall präsent und beworben ist, muss es noch lange nicht gut sein.”
LG Gabi
Wie wahr … In der Zwischenzeit scheint das Buch ja sogar in die Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen zu sein, wenn ich das richtig gesehen hab. So gesehen hat offensichtlich das Marketing wenigstens was richtig gemacht …
Liebe Grüße
Ascari
Ich packe mal die Ironie aus und sage, dass das Marketing das Beste an manchen Büchern ist ;-)
Auch da kann ich dir nicht widersprechen :D :D …
Hey :)
Eine sehr schöne und ausführliche Rezension.
Das Buch ist ja wirklich in aller Munde. Bisher habe ich es noch nicht gelesen, aber die vielen gemischten Meinungen schrecken mich doch etwas ab. Es ist immer schade, wenn ein Buch ein solch wichtige Themen behandelt, aber dann letztendlich an der Umsetzung scheitert. Kaufen werde ich mir das Buch daher wohl vorerst nicht, dafür aber mal aus der Bücherhalle ausleihen. Vielleicht versuche ich mich auch mal am Hörbuch, denn bald beginnt die Uni wieder und habe so Zeit, mir meinen Weg zu versüßen, wenn ich keine Musik hören möchte.
Liebe Grüße
Isabell
Hallo Isabell,
das ist wirklich ein Buch, bei dem ich jedem empfehlen würde, es besser auszuleihen oder über ein Hörbuchabo runterzuladen. Es ärgert einen vieles daran. Aber immerhin rührt es Themen auf, über die man sich dann immer noch selbst Gedanken machen und eigene Lösungen finden muss, aber manche Problematiken werden immerhin angsprochen. Mir wurde “Der Report der Magd” von Margaret Atwood als bessere Alternative empfohlen, vielleicht wäre das auch was für Dich.
LG Gabi